Auszug " Mein Aikido mit Nishio Sensei " von Paul Müller
Am 15. März 2005 haben wir einen aussergewöhnlichen Experten der Welt der Kampfkünste verloren. Nishio Sensei war aber auch im zwischenmenschlichen Bereich ein Mann vorzüglichen Charakters: bescheiden, anmutig, äusserst liebenswürdig und sehr intuitiv bezüglich der Einschätzung seines Gegenübers – heute würde man eher sagen: ein psychologisch sehr feinfühliger Mensch. Er wurde von zahlreichen japanischen Kollegen als ein Überbegabter der Kampfkünste eingeschätzt. Er war nicht nur hervorragend im Aikido, sondern auch in der Schwertkunst, dem Iaido. Innerhalb dieser Disziplin genehmigte ihm die Japanische Iaido Föderation, seinen eigenen Stil zu kreieren: das Aikido Toho Iai. Seit langen Jahren war Nishio Sensei 8. Dan im Aikido und 8. Dan im Iaido, aber auch 7. Dan im Karate und 5. Dan im Judo. Er unterrichtete schon zu Lebzeiten des Begründers im Hombu Dojo Aikikai von Tokio, also bereits vor 1969. Auch wunderschöne Kalligraphien hat er uns hinterlassen.
NISHIO Portrait
Sein ungewöhnlicher Werdegang hat seinem Aikido-Stil einen sehr dynamischen, natürlichen und effizienten Charakter verliehen. In seinem Aikido gab es eine starke Miteinbeziehung von Atemis jeglicher Art, die mit den Händen oder den Ellbögen ausgeführt wurden, aber auch mit den Füssen oder den Knien: entweder beim Eingang der Bewegung im Moment von Irimi oder von De Ai, oder auch während der Ausführung der Bewegung. So konnte Nishio sagen, dass es in einer Aikido-Bewegung möglich sei, den Kampf entweder sofort beim Eingang der Technik zu beenden, oder aber in vier oder fünf verschiedenen Momenten während des Ablaufs der Technik.
NISHIO Sensei und Tanaka Sensei - 1994
Diese Atemis sollten aber nicht wirklich ausgeführt werden – es sei denn bei absoluter Notwendigkeit. Denn das Prinzip der von Morihei Ueshiba kreierten Disziplin, so ermahnte er, bestehe keineswegs darin, den Gegner zu zerstören, sondern vielmehr darin, ihn leben zu lassen.
An diese fundamentale Haltung des Mitgefühls erinnerte er auch während seiner Unterweisungen im Iaido (der Ausübung des japanischen Schwertes im Alleingang), womit er das Bild des reuelos tötenden Samurai scharf kritisierte: «Der Weg des Schwertes ist ein Weg der Einsicht ins Universum und der Vereinigung mit diesem; es handelt sich um einen Weg des Erschaffens, in keinem Fall um eine Praxis der Zerstörung.» So übte seine Eigenschaft als Experte des Iaido einen starken Einfluss auf sein ganzes Aikido aus. Er hielt es für unmöglich, das Aikido zu verstehen ohne die intensive Übung in den Waffen Ken und Jo – und vor allem in der edelsten Form, der Übung mit einem echten Schwert, dem Iaido Toho. Die Bezeichnung Aiki Toho Iaïdo bedeutet: «Umsetzung des Prinzips Aiki mit dem Schwert».
Nishio Sensei - 1990
Nishio Sensei hat zwischen 25 und 30 Schwert-Katas entwickelt, die er regelmässig während seiner Aikido-Lehrgänge unterrichtete. Jede Kata ist an eine Aikidobewegung gebunden und gibt sie in einer manchmal erstaunlichen Ähnlichkeit wider. Die genauen Formen seiner Katas entwickelten sich aber unaufhörlich weiter. Sogar seine besten Schüler in Japan hatten Mühe, dem Rhythmus der Neuschöpfungen ihres Senseis zu folgen. Es war im Frühling 2001, während des letzten Lehrgangs, den er in Europa geleitet hatte (in Dänemark), als Nishio Sensei sich endlich dazu bereit erklärte, seinem Iaido Toho eine fixe Form zu geben. Diese definitive Version fasst sich in 15 Katas zusammen. Jede Kata entspricht einer präzis festgelegten Kampfsituation gegen einen oder mehrere Gegner. Manche dieser Formen ähneln denjenigen Formen, die ich im Alter von 20 Jahren mit Ichimura Sensei zu üben die Gelegenheit hatte. Doch die Szenarios sind anders und sie gewährleisten eine fast perfekte Entsprechung mit den klassischen Bewegungen des Aikido.
Nishio Sensei - 1990
In dieser definitiven Version der 15 Katas des Iaido Toho von Nishio Sensei haben einzig die erste und die letzte Kata keinerlei Beziehung zu Aikido-Techniken. Die 13 anderen Katas stimmen hinsichtlich der Schritte und der Armbewegungen in der Nahdistanz eins zu eins mit 13 Aikido-Kihons überein. Für den Aikidoka, der diese Entsprechungen zum ersten Mal entdeckt, ist das eine aussergewöhnliche Einsicht.
Doch Nishio hat die Vereinigung der Arbeit mit den Waffen und der freihändigen Arbeit noch weiter getrieben. In perfekter Übereinstimmung mit den waffenlosen Aikido-Techniken wie Ai Hanmi Shiho Nage Omote, Ai Hanmi Kotegaeshi Omote und Ura, Gyaku Hanmi Soto Kaiten Nage, Iriminage in mehreren Formen und natürlich Shomen und Yokomen Ikkyo Ura und Omote, sowie Nikyo und Sankyo, hat er Ken-Tai-Ken Kumi Tachis (Zweikämpfe mit festgelegten Szenarios, Bokken gegen Bokken) sowie ihnen entsprechende Jo-Tai-Ken Kumi Tachis (Stock gegen Schwert) entworfen. Zu diesen zwei Formen von mit Waffen ausgeführten klassischen Aikidobewegungen fügte er zwei weitere Formen hinzu:
NISHIO Sensei und Tanaka Sensei : Jo tai Ken - 1994
Die Mehrheit der klassischen Aikidobewegungen wurde somit in den folgenden fünf Formen geübt: zuerst in der gewöhnlichen Form mit freien Händen (in Tai Jutsu), dann in der Form Ken – freihändig, dann Jo – freihändig, und schliesslich in Ken Tai Ken und Jo Tai Ken. Die meisten französischen Aikidoka, die sich für Nishios Unterricht interessierten, haben diese neuartigen Ausführungsweisen mit Begeisterung und gleichzeitiger Verwunderung entdeckt, sei es während seiner Lehrgänge, sei es nur schon durch das Schauen der zahlreichen Videokassetten, die es von seinen Aufenthalten in Frankreich gibt. Das Üben dieser Formen ermöglicht tatsächlich eine neue Herangehensweise: Die damit implizierte andere Sichtweise dient als ein Mittel der permanenten Infragestellung. Es handelt sich also um eine Methode, die das eigene Fortschreiten in der Disziplin fördert. Nishio Sensei wiederholte gerne – während seiner Lehrgänge in Europa wie auch in den Dojos, die er in Japan leitete –, dass er es für unmöglich halte, die ursprünglichen Prinzipien des Aikido zu verstehen und es in richtiger Weise freihändig auszuüben, wenn man nicht dazu imstande sei, alle Bewegungen mit den Waffen in diesen fünf Formen wiederzugeben.
NISHIO Sensei and Paul Muller Sensei : Jo tai Ken 1989
Neben den Aspekten der Distanz, der Geschwindigkeit, der Wachsamkeit und der Abstraktion der Vorstellung, die man sich von den Bewegungen macht, sind diese fünf Übungsformen ein wertvolles pädagogisches Werkzeug:
Und vor allem veranschaulichen diese fünf Formen der Arbeit mit Waffen endlich in einer ausgezeichneten Art das zentrale Prinzip des Aikido: Irimi.
Nishio Sensei wurde am 5. Dezeber 1927 in Aomori, im Norden Japans, geboren. Seine Anfänge in den Kampfkünsten ab dem Alter von 18 Jahren konzentrierten sich aufs Judo und Karate. Fürs Judo besuchte er das Kodokan-Dojo und mit dem Karate begann er im Dojo von Konishi Yasuhiro Sensei. Aber als Student in Tokio praktizierte er mehrere Stile gleichzeitig: die Hauptstadt im Wiederaufbau bot keine riesige Auswahl an Dojos an, mehrere Sensei teilten sich das gleiche Dojo. Es war im Frühling 1951 (er war also 24 Jahre alt) als er an der Türe des Aikikai klopfte und Schüler von O Sensei Morihei Ueshiba wurde. So verkehrte er mit all denjenigen, die ihren Namen in das who’s who unserer Disziplin einschrieben: mit Tohei Sensei, mit Saito Sensei, zu dem er eine solide freundschaftliche Verbindung bewahrte, mit Osawa Sensei, mit Arikawa Sensei und mit vielen anderen. Es war mit Nakazono Sensei und Yamaguchi Sensei, so hat er mir gesagt, dass er in ganz Japan eine bestimmte Anzahl von Dojos eröffnete. Es war mit Tada Sensei, mit dem er abends nach dem Training den Heimweg bis zur Okubo-Station teilte. Er fand auch Tomiki Sensei wieder, den er im Kodokan kennengelernt hatte. Er teilte ausserdem für eine kurze Zeit Tomiki Senseis kompetitive Vision des Aikido, aber nur hinsichtlich der Ausbildung junger Aikidoka, die in den Gymnasien trainierten. Er sah auch hin und wieder Shioda Sensei, der nur noch an die grossen Anlässe kam. Nishio war nicht Uchi Deshi. Es waren Sunadomari und Arikawa, die zu dieser Zeit in dieser Position waren. Ab den Sechzigerjahren wurde er Instruktor im Aikikai (vgl. den Band 2 von «Traditional Aikido», dem Buch von Saito Sensei). Im Jahr 1955 begann er damit, Iaido und Jodo zu praktizieren. Er widmete sich diesen zwei Disziplinen, um das Aikido besser zu verstehen und es in der von O Sensei angedeuteten Richtung zu entwickeln, der auf die Verwandtschaft seiner freihändigen Kunst mit der Ausübung und dem Weg des Schwertes insistierte. Im Hinblick auf diese ursprüngliche Grundlage des Aikido nahm er sich vor, verschiedene Iaido-Stile zu üben. Er hatte das Glück, dem Unterricht einiger hoher Sensei mit 9. oder 10. Dan folgen zu können, wie zum Beispiel Shigenori Sano Sensei. Und im Jodo folgte er dem Unterricht von Shimizu Takaji im Shindo Muso Ryu Dojo.
NISHIO Sensei und Tanaka Sensei : Jo tai Ken 1994
Was das Aikido betrifft, entschied er sich nach dem Tod von O Sensei dazu, seinen Unterricht im Aikikai einzustellen. Er behielt aber gute Beziehungen mit dem Stammhaus und blieb in enger Verbindung mit dem zweiten Doshu, Kishomaru Ueshiba. Er war Teil des Komitees der Hochgradierten des Aikikai und behielt weiterhin seinen Sitz in diesem Komitee, das aus acht Shihan bestand, die zu den erfahrensten und meist respektierten des Aikido gehörten. Aikido und Iaido unterrichtete er nicht nur in einem einzigen Dojo, sondern er gab reguläre Kurse in vier Dojos, die im Norden Tokios und in Yokohama lagen. Zudem gab er Lehrgänge in zahlreichen Städten Japans, aber auch in Europa, in den USA und in Mexiko. Wenn man seinen Lebenslauf liest, könnte man meinen, dass er ein professioneller Kampfkünstler war. Doch dem war nicht so. Er war Halb-Profi. Er hatte eine Stelle als Beamter im Finanzministerium inne, in einem Bereich, der mit der Qualitätsüberprüfung des Banknotenausdrucks zu tun hatte. Aber gleich bei seinem ersten Besuch in Frankreich, in Begleitung von Shigeru Susuki (6. Dan), haben wir von jenem erfahren, dass Nishio, unter Berücksichtigung seiner Bekanntheit im Aikido und im Iaido, nicht zu einer regelmässigen Anwesenheit an seinem Arbeitsplatz gezwungen war. Er konnte tatsächlich sehr frei über seine Zeit verfügen, ohne seine Stellung als Beamter zu verlieren ... In gewissem Sinne war er für die Kampfkünste freigestellt.
Morihei UESHIBA und NISHIO Sensei